Ziele

Ein Ziel haben und darauf zu gehen können. Ohne sich ablenken zu lassen. Eine tolle Vorstellung. Also: Einen Punkt gesetzt. Strahlend, Glück verheißend. Wie kann der Weg dahin aussehen? Erst einmal einen Strich zeichen, also von A nach B – vom unteren Bildrand zum Punkt hin, der mittlerweile eine Strahlenform und Farbschattierungen hat wie eine Dahlie. Huch? Eine gerade Linie nur? So ganz kurz und bündig? Ein Bilderklassiker in unserer Kultur ist doch eher so ein Dreieck: Unten breit und dann spitz zulaufend. „Wir machen den Weg frei und es geht immer geradeaus.“ Fokus, Fokus, zielorientiert. Mir gefällt die Idee nicht. Sie fühlt sich so einengend an. Also wird der senkrechte Strich breiter – überall gleich breit. Aber ich brauche Bordsteinkanten – sonst verlaufe ich mich vielleicht nach rechts oder links. Ich setze sie in der Glanzfarbe Silber. Auf der Höhe des „Zieles“ angekommen biegen sie ab und werden zum Silberstreif am Horizont.

Ja, Hoffnung ist gut – kann ich gebrauchen. Immer mehr davon. Auf einmal entstehen Ansätze von Armen und Flügeln. Das Ziel hört auf, Ziel zu sein. Es wird lebendig und verwandelt sich in ein freundliches Wesen. Es will mir zulächeln, also braucht es Augen. Mir wird das zuviel und ich lenke mich ab. Die unteren Ecken sind noch leer – da kann ich vielleicht getrost etwas Erde hinbasteln. Tupfen? Einmal durchprobiert – passt aber nicht. In welche Richtung bewegt sich die Erde? Wie bewegt sich Erde, wenn sie sich nach links und rechts teilt? Keine Ahnung – ich muss es erproben. Mein inneres Auge zeigt mir Flügel, die über Erde streichen. Ich lege den Pinsel beiseite. Mit beiden Armen probiere ich die Bewegung: Flügel ausbreiten – Schwingen, die sich entfalten. Versuche mich an die Vögel im Garten zu erinnern, wie ich sie beim Auffliegen beobachten kann. Wiederholen, bis ein Gefühl für die Richtungen entsteht. Ich will es richtig machen – ja keine Fehler. Also muss ich Weiß verdünnen und die Bewegungen auf dem Papier wiederholen. Ich brauche viele Anläufe. Es ist sehr anstrengend.

Nach vielen Versuchen lasse ich mich vom Haken: Ich erlaube mir, dass dieses Bild in mehreren Zügen entstehen kann. Ich muss es jetzt nicht in einem Zug fertigstellen. Ich darf mit meinen Kräften haushalten. Jetzt, wo ich den Text schreibe, fällt mir eine zweite Lösung ein: Eine Richtung konkret probieren und mir erlauben, am nächsten Tag die andere Richtung auszuprobieren. Jetzt halte ich erst einmal die halbfertige Version fest und lasse es gut sein. Und vielleicht kann ich sie sogar einfach halbfertig so stehen lassen. Ich werde es sehen.

Ich glaube, in unserer Gesellschaft werden „Ziele“ falsch vemittelt. Oder ich habe sie falsch verstanden. Zieldefinition gilt als der Inbegriff von Produktivität. Da wird was in Stein gemeißelt und darauf hin gearbeitet. Irgendetwas an dieser Vorgehensweise ist grundlegend schief gedacht. Kein Wunder, dass es so viele Menschen mit Beschwerden jeglicher Art gibt. Es ist eine sehr subtile Art, sich dem Ganzen – zumindest vorrübergehend – zu entziehen.

Nach dem ersten Stand durfte das Bild bis zum Abend liegen. Auf einmal war es leicht, die Flügel zu malen. Und eine ganz neue Perspektive zu entdecken: Es gib kein „Ziel“, sondern nur einen authentischen Willen. Dieser besitzt die Eigenschaft, den Weg zu seiner eigenen Entwicklung mit sanften Flügeln zu begleiten und zu beschützen.