Geburt

Nach dem Desaster mit der Leimfarbe hatte ich gestern den Wunsch, noch einen weiteren Kreis zu erstellen. Dafür wählte ich den Bogen aus braungrauem Papier aus. Kreise, genauer gesagt: Spiralen, über den ganzen Bogen von Innen nach Außen in Weiß. Mehrfach. Sehr dezent vor diesem eleganten Hintergrund. Ich könnte aufhören, wenn es nach der Ästhetik ginge. Aber ich will einen farbigen Bogen. Also geht es weiter, dieses Mal von Außen nach Innen: Zuerst die Ecken in Dunkelbraun, korrespodierend mit dem Papier. Dann alle Farben Gelb von Hell nach Dunkel bis zu einem Erdbeer-Pastell im Zentrum. Noch eine Schicht drüber gelegt, wieder von Innen nach Außen. Vielschichtiger. Vermischter.

Das Zentrum will mir nicht gelingen. Nach drei Anläufen mache ich eine Pause. Die Farben sind zu nass und zu reichlich, so dass sie sich sofort zu einem Brei vermischen.

Am Abend gehe ich noch einmal über das Zentrum: Verschiedene Schattierungen in Gelb. Und ein weißes Zentrum. Besser. Dieses Kreisen nimmt heute eine andere Struktur an. Es ist nicht mehr dieses „Herumeiern“, sondern es bekommt einen Sog. Irgendwie bleibt das Gefühl, ich muss in einen Tunnel hinein- und durch ihn hindurch gehen. Ich wundere mich darüber, dass der „Tunnel“ sowohl außen (also am Anfang) als auch innen hell ist. Es ist also kein klassisches Bildnis von einem Weg, der vom Dunklen ins Helle führt. Wie aus dem Nichts erinnere ich mich an eine Geschichte, die meine Mutter mir vor langer Zeit erzählt hat. […] Abends liege ich im Bett und habe das Bedürfnis, mir den Scheitelpunkt zu halten. Das Bildnis fühlt sich an, wie die Fontanelle eines Neugeborenen. Und also nenne ich diesen Bogen „Geburt“.

Heute morgen bin entscheide ich mich, an dem Bild weiter zu arbeiten. Es bekommt eine Lasur aus Pigment-Gold aufgelegt. Wieder einmal halte ich die Luft an: Werde ich mir das Bild damit versauen? Denn die Verläufe sind wunderschön geworden. Der Blick in den Mischbecher zeigt mir eine matschig-graue Brühe. … Anspannung. Ich treibe mich innerlich an: „Es ist kein Kunstwerk, sondern nur eine tägliche Hausaufgabe. Wenn du es lernen willst, dann hilft es alles nichts – du musst es ausprobieren.“ Die Brühe auf dem Bild sieht scheußlich aus. Ich mache weiter. Was habe ich zu verlieren? Innerlich bin ich aber froh, dass ich den Zwischenschritt mit der Kamera dokumentiert habe. Wie sonst kann ich es später vergleichen?