Sternennacht

Heute probiere ich das Malen mit Leim aus. In großen Schwüngen verteilt sich das Gel auf dem Bogen. Erinnerungen an die Bilder von van Gogh tauchen auf – diese wunderbaren organischen Malstrukturen. Die „Sternennacht“ schiebt sich vor mein inneres Auge. Mein Verstand schreit: „Erst einmal das Bild recherchieren und anschauen, bevor du das nachmalst!“ Die Kreativität hat keine Lust auf Perfektionismus und übernimmt das Zepter. Erst mal mit den Feldern anfangen, bevor es ans Eingemachte geht. Vorantasten. Grüne Gerste. Keine Ahnung, was der gute alte van Gogh gemalt hatte – ich setzte jetzt auf wogende Gerste. Tupfen? Stricheln? Auf dem Leim gleitet der Pinsel aus. Schwünge. Und irgendwann die liegende Acht. Fühlt sich gut an.

Dann die Sterne. Gelb natürlich. Dann der Nachthimmel. Dunkelstes Blau. In der hinteren Ecke mauelt die Vernunft vor sich hin: „Falsche Reihenfolge. Zuerst der Hintergrund und dann die Sterne da drauf setzen! Jetzt ist es voll kompliziert und ich muss um jeden Stern und jedes Sternchen herum malen!“ Die Kreativität weiß aber, dass sie das Gelb auf dem schneeweißen Papier haben will, um das Leuchten der hellen Farbe zu erhalten. Die Vernunft hat ein Einsehen und wirft das Programm „Ausdauer“ an. Gemeinsam geht es weiter.

Die Sterne werden zu einer Entdeckungsfahrt. Leuchten sie rund oder strahlenförmig? Vernunft und Kreativität liegen mal wieder im Clinch und vereinbaren einen Kompromiss: Die kleinen Sterne werden rund, die Großen dürfen strahlen. Dann schlägt die Kreativität der Vernunft ein Schnippchen als diese nicht genug aufpasst und macht den Zentralstern auch rund. Und setzt in das Zentrum das tiefste Blau des Nachthimmels hinein. Die Vernuft ist baff und zugleich völlig begeistert, als sie darin ein Konzept erkennt: Der Zentralstern hat das Prinzip der kleinen, ruhigen Sterne erkannt und für sich übernommen. In dieser organischen Form kann sich viel besser ein Gleichgewicht entfalten und man kann so in Ruhe und Gelassenheit vor sich hinleuchten. Es ist ok, wenn die anderen großen Sterne sich noch eine Weile länger anstregen mit ihrem hektischen „Aussenden-Müssen“. Sie flackern schon ganz schön arg. Hoffentlich werden sie sich auch irgendwann anstecken lassen und sich für die Variante entscheiden, die natürlicher und ressourcen-schonender ist.

Die Landschaft ist viel zu groß geraten und in diesem Augenblick habe ich keine Idee, wie ich sie füllen kann. Macht nichts. Denn die Botschaft des Morgens ist durchgedrungen. Tief durchatmen.

An die kritische Instanz: Natürlich sieht das Original komplett anders aus. Und ja: Mein heutiges Bild wirkt im Vergleich dazu wie eine Kinderzeichnung. Und genau darum geht es hier: Um das Nicht-Vergleichen. Es geht einzig und allein darum, was Wesen der Kreativität im Tun körperlich ganz konkret zu erfahren.
Die „Sternennacht“ von Vincent van Gogh auf den Seiten vom MoMA mit brillianten Erklär-Videos zum Gemälde.